Agil mit großem ‚A‘ - In „The 6 Disciplines of Agile Marketing“ zeigt Jim Ewel, wie Agiles Marketing funktionieren kann.
Meine persönlichen Highlights und Kritikpunkte
- 👎 Die religiös anmutende Bekennung zum agilen Glauben im Vorwort. Agil ist kein Wunderbringer und kein Allheilmittel, sondern eine Arbeitsphilosophie, die – sofern sie richtig angewendet wird – eine Antwort auf viele Probleme und Fragen bietet, die uns die Gesellschaft und der Arbeitsmarkt stellen. Viel überzeugender als die hypnotisch gebetsartige Leier, warum dieses Buch für mich genau das Richtige ist, sind da doch die thematischen Kapitel. Inhalt statt Leier!
- 👍 Die Geschichte des Ingenieurs Paul MacCready und seiner Gossamer Condor als Beispiel für die Vorteile schneller Iterationen.
- 👎 „Voices from the Field“: Die Interviews mit Experten bieten zwar einige aufschlussreiche Erkenntnisse, die das Buch und die Argumentation gut ergänzen, aber Ewels Fragen sind so allgemein gestellt, dass sich vieles wiederholt, was er vorher schon geschrieben hat. Mir wären ein paar prägnante – und neue – Sätze vonseiten dieser Experten lieber gewesen als seitenlange Interviews.
- 👍 Der fließende, simple und verständliche Schreibstil.
- 👎 Die Abbildungen: leider nur schwarz-weiß und oft so klein, dass man sich das Buch vor die Nase halten muss, um etwas zu erkennen. Leider sind querformatierte Abbildungen teilweise um 90 Grad gedreht, was den Lesekomfort mindert. Ja, ich weiß: Jammern auf hohem Niveau. Aber was soll ich sagen? Das Auge liest mit.
- 👍 Die Tatsache, dass mich ein Sachbuch so gefesselt hat, dass ich weiterlesen wollte – und nicht nur, um diese Rezension zu schreiben.
Was will und kann das Buch leisten?
In seinem Vorwort zu „The 6 Disciplines of Agile Marketing“ schreibt Ewel:
I wrote this book for marketers and marketing managers who want to apply Agile values, principles, and processes to the marketing function in their organizations. It is a practitioner’s guide to Agile marketing, not a strategist’s guide.
Und dieses Ziel erreicht das Buch zu hundert Prozent. Es ist praxis- und realitätsnah, lässt die Gegebenheit verschiedener Ausgangssituationen nicht unbeachtet und räumt ein, dass es viel Zeit und Überzeugungsarbeit kosten kann, Agiles Marketing so umzusetzen, dass es Früchte trägt und im ganzen Unternehmen akzeptiert ist. Denn Ewel zufolge beginnt Agiles Marketing in agilem Denken und Handeln – und nicht in ein paar Scrum-Sprints. Anstatt seinen Lesern ein Idealbild zu zeigen, das diese dann verzweifelt und ohne die richtigen Mittel kopieren müssen, gibt er ihnen Leinwand, Farben und Pinsel in die Hand und sagt: „Hier sind die Werkzeuge, nun malt euer eigenes Bild.“
Was das Buch nicht leistet und auch nicht leisten will: Eine umfassende theoretische Auseinandersetzung mit Agiler Philosophie und Agilem Marketing. Das führt dazu, dass einige Fachbegriffe und Konzepte nur angerissen werden und Vorwissen oder weitere vertiefende Lektüre verlangen – insbesondere, wenn es um die Frameworks Scrum, Kanban und SAFe geht. Ewel erklärt und hinterfragt auch nicht, warum es ausgerechnet 6 Disziplinen und 4 Shifts des Agilen Marketings sind und wie er darauf kam.
Die 6 Disziplinen des Agilen Marketings nach Jim Ewel
- 👍 Ewel schreibt das, was er weiß. Und das ist aktuell (vor allem in Bezug auf spezielle Herausforderungen durch die Pandemie), umsetzbar und praktisch fundiert
- 👍 Vor allem der letzte Teil beeindruckt mit dem Praxiswissen und Erfahrung des Autors und erfüllt die Erwartung, die der Untertitel des Buches stellt: „Proven Practices for More Effective Marketing and Better Business Results“.
- 👍 Wenn es Statistiken gibt, die seine eigenen Erfahrungen mit Zahlen belegen, führt er diese an.
- 👍 Äußerungen von Expert*innen des Agilen Marketings wie Eric Schmidt und Tara Wilkinson untermauern und erweitern Ewels Standpunkte.
Zum Aufbau
Das Handbuch ist in vier Teile gegliedert:
- Der erste Teil bietet eine generelle Einführung in das Thema und die Vorteile von Agilem Marketing gegenüber traditionellen Formen.
- Der zweite Teil beschäftigt sich mit den titelgebenden 6 Disziplinen des Agilen Marketings: Alignment, Structure, Process Management, Validated Learning, Adapting to Change und Creating Remarkable Customer Experiences.
- Da Ewel zufolge Agiles Marketing am besten in einer Agilen Unternehmensstruktur funktioniert, folgen im dritten Teil die 4 Umbrüche (shifts), die sowohl auf Führungsebene als auch im ganzen Unternehmen angestrebt werden sollten: ein Fokus auf Resultate statt auf Produktion (Outcomes over Outputs), kontinuierliche Verbesserung (Continuous Improvement) statt Kampagnen-Mentalität, kundenfokussiert (Customer Focused) statt intern fokussiert und dezentrale Entscheidungsfindung (Decentralized Decisions) statt Entscheidungen von oben.
Die 6 Disziplinen und 4 Shifts des Agilen Marketings nach Jim Ewel
- Im vierten und letzten Teil gibt Ewel anhand seiner eigenen Erfahrungen differenzierte und realitätsnahe Tipps, um Agiles Denken und Arbeiten im Marketing erfolgreich umzusetzen und auch beizubehalten.
- 👍 Die Gliederung ist zielführend, simpel und verständlich.
- 👍 Praxisorientierte Fragen, die der zweite und dritte Teil aufwerfen, werden spätestens im vierten Teil beantwortet.
- 👍 Ein Stichwortverzeichnis am Ende des Buches erleichtert das Wieder-Finden von Fachbegriffen
- 👍 Das Buch ist für verschiedene Lesarten ausgelegt, die in Jim Ewels Vorwort erläutert werden. Zum Beispiel könnte ein Marketing-Manager den zweiten Teil zu den 6 Disziplinen so gut wie überspringen und sich eher auf die 4 Shifts konzentrieren. Das kann ein Vorteil sein, wenn man sich schon in das Thema eingelesen hat und nur die spezifischen Praxistipps für seine Position nachvollziehen will.
- 👎 Die Integration der verschiedenen Lesarten resultiert jedoch in vielen Querverweisen und Wiederholungen, die auf Dauer etwas anstrengend sein können. Viele Sachverhalte werden der Vollständigkeit halber mehrmals angesprochen, aber nur in dem ihnen zugehörigen Abschnitt genauer erläutert. Einsteiger, für die ich wegen des besseren Verständnisses eine vollständige Lektüre empfehlen würde, müssen da leider durch.